Geschichte des Sozialstaats
Der Sozialstaat, wie wir ihn heute kennen, ist keine Selbstverständlichkeit. Die soziale Sicherheit musste Stück für Stück erkämpft werden. Seit seinen Anfängen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben liberale, konservative und sozialdemokratische Kräfte um die Ausgestaltung des Sozialstaates gerungen. Große Schritte vorwärts gelangen in der 1. Republik und der Ära Kreisky, Rückschritte waren insbesondere in der Zeit des Austrofaschismus und darauffolgend im Nationalsozialismus zu beobachten. Wer Teil des sozialen Sicherungssystems sein soll und wer nicht, ist bis heute Gegenstand vieler Auseinandersetzungen.
Die Sozialversicherung in ihrer heutigen Form war ein intensiver Aushandlungsprozess, wer von einer Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- oder Pensionsversicherung profitieren soll und kann und vor allem auch, wie die Finanzierung ausgestaltet werden soll. Es war ein langer Weg bis zu der Erkenntnis, dass nach Möglichkeit alle Bürger:innen in irgendeiner Form gegen die Existenzrisiken des Lebens abgesichert sein sollten.
Auch die Arbeitszeit war nicht selbstverständlich eine fixe, planbare Größe. Schon der 11-Stunden-Tag Ende des 19. Jahrhunderts war schwer durchzusetzen, da dieser „Eingriff“ des Staates in der Argumentation von Industrie und Wirtschaft die freie Entscheidung des Individuums über die Dauer des Arbeitstages einschränken und die Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft unter Druck setzen würde. Von einem 8-Stunden-Tag war man damals noch Jahrzehnte entfernt.
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen setzte sich ebenfalls erst langsam und mühsam über die Jahrzehnte bis nach dem 1. Weltkrieg durch.
Ein interessanter Aspekt ist, dass sozialpolitische Maßnahmen bis in die 1930er-Jahre nicht zwangsläufig an die wirtschaftliche Konjunktur gekoppelt waren. Obwohl als Argument immer wieder von Industrie und Gewerbe angeführt, wurde der Ausbau des Sozialstaates in besonders schwierigen Situationen vorangetrieben, z. B. Wirtschaftskrise der 1870er-Jahre oder nach dem 1. Weltkrieg.
Die einzelnen Sozialversicherungssysteme, die lange Zeit unterschiedlichen Leistungen für Angestellte und Arbeiter:innen, die verschiedenen Arbeitszeitregelungen und vieles mehr sind Anzeichen für die wechselnden Kräfteverhältnisse in Österreich der letzten mehr als 100 Jahre. Der lange, steinige Weg bis zu unserem heutigen Sozialstaat lässt sich anhand der unterschiedlichen Mehrheiten im Parlament, aber auch des Drucks aus der Bevölkerung nachverfolgen. Liberale und konservative, christlich-soziale und sozialdemokratische Parteien verfolgten unterschiedliche Ansätze, die jeweils Ausbau, Stagnation oder Rückbau des Sozialstaats zur Folge hatten.
Diese vier Grafiken bilden natürlich nur schematisch und verdichtet die Weiterentwicklung des Sozialsystems in Österreich ab – zu kurz kommen dabei definitiv die „Sparpakete“ und Rückbauschritte, die zum Teil zu beträchtlichen Einschnitten im Bereich der sozialen Absicherung geführt haben. Letztendlich handelt es sich beim Sozialstaat um kein statisches Gebilde, sondern um einen Mix aus Geld- und Sachleistungen, der oft auch den aktuellen politischen „Konsens“ bzw. die bestehenden Macht(un)gleichgewichte in Wirtschaft und Gesellschaft abbildet.
Den jüngsten Stresstest durch Corona hat der Sozialstaat im Wesentlichen gut bestanden! Dennoch hinterlässt die Corona-Pandemie – trotz einer guten sozialen Absicherung in Österreich – zahlreiche „Narben“: auf dem Arbeitsmarkt, in Gleichstellungsfragen, bei der Armutsgefährdung und in vielen Bereichen des Lebens.
Die jüngsten Trends in den verschiedenen Politikfeldern und die gebotenen Entwicklungsschritte sind in der Sammelpublikation „Soziale Lage und Sozialpolitik in Österreich 2023 – Entwicklungen und Perspektiven“ kompakt beschrieben und zusammengefasst.