Merkmale und Funktionsweise
Der österreichische Sozialstaat funktioniert im Wesentlichen gut – das gilt für die jüngsten Erfahrungen in der Pandemie, aber auch für die Vergangenheit. Für die Zukunft braucht es aber soziale und gesellschaftliche Weichenstellungen.
Hierzulande bietet der Sozialstaat der Bevölkerung umfangreiche Leistungen zur sozialen Absicherung, und das bei stabilen Ausgaben seit Mitte der 1990er-Jahre – bis zum Pandemiejahr. Mit Geld- und Sachleistungen sorgt er für Umverteilung und reduziert so auch die Armutsgefährdung. Damit trägt er zur Wahrung des Lebensstandards der breiten Masse der Bevölkerung und gleichzeitig zur Sicherung des sozialen Friedens bei.
Die Analysen der OECD-Daten lassen bisher keinen Zweifel daran, dass der österreichische Sozialstaat nicht nur unter Gesichtspunkten der von ihm getätigten Ausgaben – pandemiebedingt in Summe aktuell rund 136 Milliarden Euro (2022) –, sondern auch in Bezug auf die Ergebnisse im internationalen Spitzenfeld liegt. Vergleichsweise gut gelingt die soziale Absicherung über den Lebenszyklus hinweg und die Wahrung eines bestimmten Lebensstandards der breiten Masse der Bevölkerung.
Wesentliche Charakteristika des österreichischen Sozialstaats auf einen Blick:
Die „Korrekturen“ der Einkommensverteilung in Österreich vorrangig über Sozialausgaben sind ein wichtiger Beitrag zum Erhalt des sozialen Friedens in Österreich und zur Vermeidung von (extremer) Armut.
Dass es gelingt, durch Sozialleistungen die Einkommenssituation von Haushalten zu verbessern und die Armutsgefährdung in Österreich deutlich zu reduzieren, bringen stets die Ergebnisse der EU-SILC-Erhebungen (Statistik Austria, 2023, S. 72) zum Ausdruck. Ohne Sozialstaat – insbesondere ohne öffentliche Pensionen – wäre die Armutsgefährdung in Österreich knapp 2,5 mal höher!
FAZIT: Ohne den Sozialstaat wären also rund 3,9 Millionen Menschen, besonders Pensionist:innen und alleinerziehende Frauen, armutsgefährdet. Dass am Ende noch immer über 1,3 Millionen Menschen unter ihrer Armut leiden, sollte ein klarer Handlungsauftrag an die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft sein!
Die gravierenden negativen Auswirkungen von Armut und Ungleichheit auf die gesamte Gesellschaft, insbesondere die Diskriminierung bei der sozialen, politischen und demokratischen Teilhabe der davon Betroffenen, erfordern deutlich verstärkte Anstrengungen zur Umverteilung.
Was wir bisher wissen: Nach dem gesamten staatlichen Umverteilungsprozess – also unter Berücksichtigung aller einnahmen- und ausgabenseitigen Maßnahmen – lässt sich der Umverteilungsprozess für das Jahr 2019 folgendermaßen verkürzt beschreiben (WIFO-Umverteilungsstudie):
Im Vergleich zu den „Markteinkommen“ wird die Verteilung der verfügbaren Einkommen aus Sicht der Einkommensfünftel „gleicher“. Im Ergebnis stehen den Haushalten bis zum 4. Dezil 24 % (statt 16 %) der verfügbaren Einkommen zur Verfügung, dem obersten Fünftel noch immer 35 %.
Im Wesentlichen kommen die Umverteilungswirkungen dort an, wo sie am dringendsten benötigt werden: am unteren Ende der Einkommensverteilung. Ein ausgebauter Sozialstaat mit öffentlichen Geld- und Sachleistungen stellt somit eine Voraussetzung für fair verteilten materiellen Wohlstand in der Gesellschaft dar.
Es mag für viele auf den ersten Blick überraschend sein, aber die Zahlen sprechen für sich: Der Anteil der Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung (= Sozialquote) lag in Österreich seit Mitte der 1990er-Jahre stabil zwischen 27 % und 30 % der Wirtschaftsleistung. Dass eine Pandemie und Krisenjahre „anders“ sind, ist völlig klar: Wenn die Wirtschaftsleistung einbricht und der Bedarf an Sozialleistungen sprunghaft steigt, dann ist eine höhere Sozialquote nichts anderes als ein Beleg für das Funktionieren des Sozialstaats.
Nur über Kürzungen der Sozialleistungen könnte diese Quote auch in Krisenzeiten stabil gehalten werden – das wäre aber ein sozialpolitisches Versagen, gerade in Zeiten, in denen mehr Menschen Hilfe und Unterstützung brauchen als sonst!
Der Großteil der Sozialleistungen (knapp 2/3; 64 Prozent für 2022) wird in Form von Geldleistungen ausbezahlt, während Sachleistungen bzw. Dienstleistungen eine nach wie vor weniger bedeutende Rolle spielen.
Bei den Familien- und den Sozialleistungen für ältere und pflegebedürftige Personen ist dieses Verhältnis zugunsten von Geldleistungen besonders stark ausgeprägt. Umgekehrt verhält es sich vor allem im Bereich der Gesundheitsversorgung, wo medizinische Angebote (z. B. Arztbesuch, Spitalsaufenthalte) den größten Anteil der Ausgaben ausmachen.
Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen drei Arten sozialer Absicherung:
- Leistungen nach dem Versicherungsprinzip,
- Leistungen nach dem Versorgungsprinzip,
- Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip.
Bei Leistungen im Sinne des Versicherungsprinzips werden den Mitgliedern beim Eintreten eines Versicherungsfalles die Schäden vergütet. Voraussetzung ist das Zahlen von Beiträgen bzw. Prämien. Die Sozialversicherung basiert auf einem – verpflichtenden – Zusammenschluss von erwerbstätigen Personen (gesetzliche Pflichtversicherung), die ähnlichen und damit für sie typischen sozialen Risiken ausgesetzt sind (Risikogemeinschaft). Damit erwerben sie einen Rechtsanspruch auf Leistungen aus der Sozialversicherung, wodurch die Gefahren der Einzelnen auf die Allgemeinheit verteilt werden.
Leistungen nach dem Versorgungsprinzip werden gewährt, wenn die bestimmten Voraussetzungen erfüllt sind, zum Beispiel Pflegegeld oder Familienbeihilfe sowie die einkommensunabhängigen Varianten des Kinderbetreuungsgeldes. Diese Leistungen kommen allen Personen innerhalb einer Solidargemeinschaft bei Eintreffen der relevanten Bedingungen zu, unabhängig von der jeweiligen finanziellen Situation. Auf Versorgungsleistungen besteht ein Rechtsanspruch.
Im Gegensatz zu Leistungen aus dem Versicherungs- bzw. aus dem Versorgungsprinzip sind die Leistungen nach dem Fürsorgeprinzip nicht planmäßig und vorhersehbar, sondern den Bedürfnissen des konkreten Einzelfalles anzupassen. Sie werden nur dann gewährt, wenn keine anderen Möglichkeiten zur Bedarfssicherung bestehen. Sie sollen Bereiche abdecken, die von Versicherungsleistungen nicht oder nur schlecht erfasst werden können, setzen eine Bedarfsprüfung voraus und sind von Beitragsleistungen in das Sozialsystem unabhängig. Wichtigstes Beispiel für eine Fürsorgeleistung ist die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung. Rechtsanspruch besteht in der Regel nur auf einen Teil der Leistung.
Innerhalb der Geldleistungen haben sozialversicherungsrechtliche und universelle Leistungen das stärkste Gewicht. So sind die Zugangsvoraussetzungen/Leistungsbemessung der Geldleistungen im Alter, bei Arbeitslosigkeit und bei Invalidität überwiegend an den früheren Erwerbs- bzw. Einkommensstatus gekoppelt.
Universelle Leistungsansprüche sind u. a. die fast vollständige (Mit-)Versicherung aller Bürger:innen im Rahmen der Krankenversicherung, Leistungen der Pflegeversorgung und die Familienleistungen. Mit der Einführung des „Kinderbetreuungsgelds“ ist der Anteil der universellen Leistungen anteilsmäßig gestiegen.
Bedarfsgeprüfte Leistungen – insbesondere Ausgleichszulage, Notstandshilfe, Sozialhilfe/Mindestsicherung – belaufen sich insgesamt auf rund 10 Milliarden Euro (BMASGK 2018) – also ca. 10 % der gesamten Sozialleistungen.
Das österreichische Sozialsystem ist auch durch einen überschaubaren Mix aus regionalen und zentralen Akteuren (wie z. B. Sozialversicherung und Bund) geprägt, wobei letzteren die größte Bedeutung zukommt. Die Sozialversicherung und der Bund verantworten zusammen rund ¾ des Ausgabenvolumens. Auch die Bundesländer, Gemeinden und Städte leisten einen wichtigen Beitrag zur sozialen Sicherheit (u. a. Gesundheitswesen, Kinderbetreuung, Soziale Dienste, Sozialhilfe/Mindestsicherung).
Die Sozialpartner hatten ebenso eine bedeutende und äußerst wirksame Rolle – sei es im Gesetzesentstehungsverfahren oder in diversen Gremien, in denen sie ihr Wissen und ihre Erfahrung konstruktiv einbringen konnten. NGOs und weitere Interessenvertretungen (z. B. für Senior:innen, Menschen mit Behinderung u. v. m.) helfen mit ihren (praktischen) Erfahrungen aktiv bei der Verbesserung von Gesetzen bzw. deren Umsetzung. Auch die verschiedenen Religionsgemeinschaften fügen sich als wichtige Akteure im Sozialstaatsdiskurs institutionell, beispielsweise mit Ordensspitälern, gut in das große Ganze ein.
Die oft emotional geführten Debatten zum heimischen Steuersystem könnten den Eindruck erwecken, dass in Österreich vorrangig über die Einnahmenseite des Staates – also über Steuern und Abgaben – von „oben nach unten“ umverteilt wird.
Die Fakten, die in regelmäßigen Abständen vom WIFO umfangreich in den sogenannten „Verteilungsstudien“ dargelegt werden, zeigen ein anderes Bild: Da der Anteil von progressiven Einkommensteuern und vermögensbezogenen Steuern am gesamten Steuer- und Abgabenaufkommen sehr gering ist, gibt es kaum nennenswerte Umverteilungseffekte, die von den Staatseinnahmen ausgehen.
Somit findet die Umverteilung von „oben“ nach „unten“ derzeit vorrangig über die Ausgabenseite des Staates, insbesondere durch Bildungs- und Sozialausgaben, statt.
Daher mag es wenig überraschen, dass für betroffene Haushalte mit niedrigem und mittlerem Einkommen gerade der Bezug von Sozialleistungen einen wesentlichen Bestandteil ihres Haushaltsbudgets ausmacht. Allen voran sind das Pensions- und Arbeitslosenunterstützungsleistungen, Wohnbeihilfen, Pflegegeld und ausgewählte Familienleistungen wie etwa das Kinderbetreuungsgeld.
Kürzungen dieser Ausgaben bedeuten also nicht nur einen massiven Kaufkraftverlust für die betroffenen Menschen und Familien, sondern auch eine Verschärfung der ohnedies bestehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Schieflagen in diesem Land. Wer könnte sich schließlich Spitalsaufenthalte oder den Schulbesuch der Kinder privat überhaupt „leisten“?
In Österreich sollen auch Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung in der Gesellschaft gerecht werden: Daher gibt es gesetzliche Regelungen zum Ausgleich der Schutzbedürfnisse von Arbeitnehmer:innen gegenüber den betriebswirtschaftlich begründeten (hohen) Anforderungen der Arbeitgeber:innen.
Die wichtigsten Schutzbestimmungen und Mitbestimmungsrechte sind dabei u. a. das Arbeitnehmer:innenschutz-Gesetz, arbeitsrechtliche Ansprüche der Arbeitnehmer:innen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Weiterbildung und Demokratie am Arbeitsplatz.
Manche Schutzbestimmungen sind aber im internationalen Vergleich schwächer bzw. wurden in den letzten Jahren reduziert. Dies gilt insbesondere für den Kündigungsschutz, der beispielsweise im Vergleich zu Deutschland weniger stark ausgeprägt ist.
Hinsichtlich der Regelung der Entlohnung und weiterer Arbeitsbedingungen auf Branchenebenen spielen Kollektivverträge eine zentrale Rolle. In Österreich unterliegen rund 98 % der Arbeitnehmer:innen kollektivvertraglichen Bestimmungen.
Arbeitgeber:innen werden – nicht nur im Rahmen der Sozialpartnerschaft – insgesamt sehr stark in Entscheidungsprozesse eingebunden. Das Kräfteverhältnis zwischen Wirtschaft und Arbeitnehmer:innen befindet sich seit jeher in einer Schieflage: Argumente, die eine (mögliche) Gefährdung des Wirtschaftsstandortes betreffen, setzen sich öfter durch als Forderungen nach mehr Schutz für Arbeitnehmer:innen. Angesichts der derzeitigen Entwicklungen sieht es sogar nach weiteren Verschlechterungen für die Beschäftigten in Österreich aus.